Geschichte des Zen

verworrene Fäden mit TautropfenDie Entstehung des Zen-Weges

Ab dem 1. Jh. n. Chr. beginnt im Osten dieser Welt etwas Außergewöhnliches und Epochemachendes. Zwei Jahrtausende alte große spirituelle Traditionen, die indische und die chinesische, die gegensätzlicher nicht sein können, begegnen sich. Der indische Buddhismus fasst in China langsam Fuß. Ab dem 4. Jh. lassen sich gegenseitige Beeinflussungen führender chinesischer Intellektueller und Weisheitslehrer erkennen. In diesen Kreisen begegnen sich Mayahana-Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus, die sich wechselseitig befruchten, neu interpretieren und vertiefen. Ohne die Denkleistungen z.B. eines Guo Xiang, Wang Bi, Seng Zhao oder Daosheng im 4.-5. Jh. wäre die später entstehende Chan-Bewegung („Chan“ ist der chinesische Begriff für Zen) nicht denkbar.

Zentrale Gedanken, die sich in China herauskristallisieren

  1. Leben ist Wandlung und es ist nicht Ziel, den Wandlungen zu entfliehen, sondern sie zu bejahen und aus einer unbedingten Quelle oder Wurzel her leben zu lernen. Damit erfährt besonders der Alltag eine große Wertschätzung. Das spielt im Chan eine zentrale Rolle. Die Formulierung „der alltägliche Geist ist der Weg“ führt z.B. dazu, der physischen Arbeit eine Bedeutsamkeit beizumessen. In einem überlieferten Dialog heißt es: „Woher kommst Du?“ Yangshan sagte: „Ich komme mitten vom Feld.“ Der alltägliche Geist spielt auch in dem folgenden Zen-Dialog eine Rolle: „Zhaozhou sagte:„Hast du schon deinen Reisbrei gegessen?“ Der Mönch sagte: „Ich habe meinen Reisbrei bereits gegessen.“ Zhaozhou sagte: „Dann geh deinen Bettelnapf auswaschen!“
  1. Das Leben ist dynamisch, und die Bewegungen und Wandlungen des Lebens übersteigen und durchdringen uns. Hier spielen die Begriffe Dao und Ziran eine große Rolle. Dao ist ein umfassendes Wirkprinzip, das nur im Gehen zum „Weg“ wird und sich als wegloser Weg verwirklicht. Ziran meint unsere wahre Natur im Sinne von Sosein, „so wie es von sich selbst her ist“. So wird es von der Chan-Tradition aufgegriffen. Daher ist es wichtig, sich von Anhaftungen an „Ich“ und überwertige Ich-Konstruktionen zu lösen, damit Lebendigkeit, Wahrheit und Freiheit von selbst hervorbrechen und zu Wegweisern werden. So heißt es im Chan später etwa: „Wenn du gehst, dann gehst du, wenn du isst, dann isst du, wenn wir uns begegnen, dann begegnen wir uns“, und durch die Übung haben wir herauszufinden, wie das denn tatsächlich wahr ist.
  1. Welt, Natur, Menschen und alle Lebewesen stehen in gegenseitiger Resonanz. Resonanz ist ein zentraler Inhalt chinesischen Denkens und Lebens. Diese resonante Interaktion ist die eigentliche Struktur des Lebens. Die Chan-Übung führt dahin, unmittelbar resonanzfähig zu sein: Das strahlende Licht am Morgen, der Wind, der pfeift, der Gesang der Nachtigall, das Schreien des Kindes, der Eichbaum im Garten… 
  1. Alles, was ist und geschieht, ist nicht nur immanent, also ganz und gar weltlich, sondern gleichermaßen transzendent, geht also über Welt, Raum und Zeit hinaus. Gleichermaßen ist der Mensch immanent und transzendent. Diese beiden Pole bilden eine Einheit, doch auch diese Struktur übersteigt sich absolut und ist gleichzeitig in resonanter Verbindung. Die chinesischen Begriffe li und shi (das Absolute und das Phänomenale), wu (Nichts) und der Sanskrit-Begriff sunyata (Leerheit) sind in diesem Kontext zu verstehen. Erkennen und Wissen kommen hier an ihre Grenzen. Die Chan-Übung dient dazu, diese doppelseitige Wirklichkeit und die Grenze von Erkennen und Wissen zu realisieren und zu überschreiten. Der Lehrer sagt: „Zeige mir Mu!“ — und die Schülerin zeigt Mu.
  1. Eine neue Denkform entsteht: Erkennen geschieht durch Handlung. Wer aus Nichts oder in Leerheit konkret handelt, berührt und vollzieht am genauesten die ganze Struktur des Lebens. Diese Intuition macht sich Chan in der Übung mit dem Koan zu eigen. So verlangt zum Beispiel ein Koan: „Zeige einen Baum, der sich in einem starken Sturm nicht bewegt.“

Wichtige Etappen des Chan in China

Als Begründer des Chan wird Bodhidharma (440-528) angesehen, ein indischer buddhistischer Mönch, der die gegenstandslose Meditation (Dhyana) nach China bringt. Dies ist vermutlich nur ein Gründungsmythos. Langsam, über Jahrhunderte hinweg, entwickelt sich auf chinesischem Boden eine neue Meditationsbewegung. Die Zeugnisse dieser Zeit sind begrenzt, denn die meisten Quellen entstammen aus viel späterer Zeit. Spuren einer Meditationsbewegung gibt es beispielsweise am Ostberg um Daoxin und Hongren im 7. Jh. Mit der Hongzchou-Schule ab dem 8. Jh. ist das erste Mal eine Chan-Schule greifbar. Bekannte Lehrer wie Mazu, Nanquan und Zhaozhou gehören dazu. Doch die Spuren verdichten sich: Bis zur Song-Zeit (10.-13. Jh.) entsteht eine kompakte Bewegung verschiedener Schulen, Richtungen und Schwerpunkte, die untereinander in Verbindung und im Austausch stehen. Die Caodong-Schule (jap. Soto) und Linji-Schule (jap. Rinzai) sind heute noch erhalten.

Die Chan-Bewegung nimmt in China entstandene Ideen und Ansätze auf, entwickelt jedoch keine eigenen Theorien. Die führenden Personen sind jedoch gebildet und intellektuell auf der Höhe ihrer Zeit. Ihr Anliegen ist eine befreiende Praxis. Dazu greifen sie auf bestehende Übungen und Vorlagen aus dem Daoismus, Konfuzianismus, indischen und chinesischen Buddhismus zurück und entwickeln eine eigene, einfache und kraftvolle Praxiskultur mit verschiedenen Meditationsformen, unterschiedlichen Formen des Dialogs und ersten Vorformen der Koan-Praxis. Ziel ist das Realisieren von „Buddha-Natur“, d.h. ein zur Leerheit erwachtes, personales Sosein und das Kultivieren des alltäglichen Geistes.

Entwicklungen des Zen in Japan

Chan inkulturiert sich in andere Länder wie Korea, Vietnam und Japan. Japan hat zu Chan-Kreisen bereits ab dem 8. Jh. Kontakt, jedoch erst ab dem 12. Jh. kommt es in Japan an und erhält eine japanische Form. Der japanische Begriff lautet nun „Zen“. Wichtig für die heutige Zen-Übung ist die Entwicklung von Koan-Curricula, die mit und nach Zen-Meister Hakuin im 18. Jh. entstehen. Mit Beginn der Meiji-Zeit (ab 1869) beginnt für Zen-Schulen eine Krise und Neubestimmung. In dieser Zeit entsteht die Kyoto-Schule, die, in der Auseinandersetzung mit westlichen Philosophien, buddhistische Inhalte auf neue Weise reflektiert. Hier entsteht 1954 auch die Laien-Zen-Schule Sanbo-Kyodan (später Sanbo-Zen), die Inspirationen des Soto- als auch des Rinzai-Zen in sich aufnimmt. Sie öffnet sich dem Westen, besonders unter Yamada Roshi. Der indische Zen-Meister Ama Samy (Lehrer von Johannes Fischer) ist Schüler von Yamada Roshi. Er verlässt Sanbo-Kyodan 2002, um seine eigene Schule zu gründen, die Bodhi Sangha. Ama Samy öffnet sich der gerade entstehenden wissenschaftlich-kritischen Reflexion über Zen. Durch den interreligiösen Einfluss und den Austausch mit modernen Wissenschaften stellt er manche traditionellen Einsichten in neue Horizonte und ist so ein Wegbereiter für Zen im Westen.

Herausforderungen für ein Zen im Westen

Zen ist seit dem 20. Jh. dabei, im Westen anzukommen und sich zu inkulturieren. Dabei darf es seine spirituelle Kraft nicht verlieren und muss sich den Anfragen der westlichen Kultur wie auch der Ambivalenzen auf Seiten des Chan/Zen wie auch der westlichen Kultur stellen. Zen im Westen sollte die wichtigen Inspirationen aus China vertieft aufnehmen, um die Einseitigkeiten späterer Zeit zu überwinden. Wir müssen auch kritisch fragen, ob Zen, genauer: welches Zen im Westen Sinn macht.

Die Zen-Übung führt an die Wurzel der Existenz. Von ihr geht eine transformative und kreative Kraft aus, die durch Selbsterfahrung hilft, Fragen nach Subjekt-sein neu zu erkunden. So können wir die Frage tiefer verstehen, wie wir in der heutigen Zeit leben sollen und einen Ausweg aus den Widersprüchen unserer Zeit finden. Und wir können die Kraft finden, uns den wirklich wichtigen Fragen unserer Zeit angstfrei zu stellen, mit all unseren Möglichkeiten.