Mit zunehmender Praxis wird der Zen-Weg immer mehr zur Übung des Alltags. Wir nehmen im Alltag genauer die verschiedenen Geisteszustände wahr, in denen wir uns befinden, lernen sie anzunehmen und heilsame Zustände zu festigen, in allem, was ich tue und wo immer ich auch stehe.
Da wir immer in sozialen Interaktionen und Resonanzen leben, erleben wir unterschiedliche Zustände. Sie gehören zu uns und es ist wichtig, sie zu bejahen und zu akzeptieren. Diese Zustände können den spirituellen, den kognitiven, den emotionalen, den körperlichen und den Bereich der Beziehungen berühren. Sie sind oft verbunden mit unserer biographischen Geschichte, unseren Intentionen und Zielen wie auch dem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld, in dem wir leben. Wir lernen diese unterschiedlichen Zustände wahrzunehmen und zu benennen. Was uns ausfüllt, kann Angst sein, übermäßige Sorge, Unruhe, Getrieben-Sein ebenso wie Druck, Hass, Gier, Neid, Selbstbezogenheit oder Überheblichkeit. Diese Zustände können vorübergehend oder langanhaltend sein, sich als Gestimmtheit zeigen oder Teil unserer Persönlichkeit sein. Durch die Übung erfahren wir, dass wir sie loslassen, dass sich diese Zustände transformieren können. Manchmal bemerken wir auf einmal den Reichtum und die Schönheit von Weisheit, Mitgefühl, Großzügigkeit, Verbundenheit und (Mit-) Freude, von Einfachheit und Bescheidenheit, von Gelassenheit.
Es geht um unser ganzes Leben
Die Übung des Alltages bezieht alle Lebensbereiche mit ein. Viele Fragen und Themen können auf uns zukommen. Zu diesen Fragen und Themen gehören: Wie gehen wir mit Zeit um? Wie leben wir in Beziehungen, wie im Rahmen von Partnerschaft oder Familie? Wie gestalten wir Sexualität und Liebe und wie lassen wir sie reif werden? Wie arbeiten wir und wofür? Welchen Beruf haben wir ergriffen und wie füllen wir ihn aus? Können wir dahinterstehen oder sollten wir uns neu orientieren? Welche Prioritäten und Werte leben wir und lassen sie sich ethisch vertreten? Wie gehen wir mit Klimawandel, Erderwärmung und mit all den fatalen weltweiten Folgen für Menschen, Tiere und die Natur um? Verharren wir in Abwehr oder verdrängen wir diese Realitäten? Wie gehen wir um mit Gewalt und Hass, wie mit Ohnmacht, Angst, Resignation und Schmerz angesichts dieser Realitäten? Haben wir den Mut, uns dieser Realitäten auch emotional und spirituell zu stellen? Nehmen wir es hin, dass wir in einer Gesellschaft leben, die in „Steigerungslogik und Entfremdung“ (Hartmut Rosa) gefangen ist? Und was ist, wenn uns diese Logik nicht mehr plausibel ist?
Zen, so wie wir es verstehen, lässt all diese Fragen nicht außen vor. In China ist der folgende Satz geprägt worden: „Der alltägliche Geist ist der Weg“. Tatsächlich führt die Zen-Praxis auf den „Marktplatz des Lebens“. Durch die Übung von Zazen, durch Austausch, Reflexion und gegenseitige Solidarität finden wir die Kraft, hoffnungsfroh und gestaltend zu leben. So lernen wir kräftiger „Ja“ zu sagen, wenn es ja und „Nein“ zu sagen, wenn es nein zu sagen gilt, und wir lernen, schöpferische Alternativen zu entwickeln.